
Der Gedenktag an die Deportation der Darmstädter Sinti und Juden fand dieses Jahr im März in der Galerie Kurzweil statt. Im Zentrum standen die Deportationen vor 82 und 83 Jahren vom Güterbahnhof ausgehend. Sie führten für die meisten in die Ermordnung. Namentlich erinnert wurde in biografischen Lesungen an die Familien Wick, Lind und Rose. Den Vortrag der von der Geschichtswerkstatt erarbeiteten Biografien übernahmen Schülerinnen der Bertolt-Brecht-Schule Darmstadt und der Viktoriaschule.
Lesung 1: Erinnerungen an und von Martin Wick
Martin Wick wird am 17. Juni 1931 in Ober-Rosbach geboren. 1934 zieht er mit seinen Eltern, Georg und Marie Wick, und seinen älteren Geschwistern Susanne, Sophie, Wilhelmine und Peter nach Darmstadt, in die Stadt, in der auch die Geschwister seines Vaters leben. Die Familie wohnt zunächst wie viele Sinto-Familie in der Altstadt. Dann ziehen sie in die ehemalige Rote Dragoner Kaserne am Marienplatz. In Darmstadt werden auch Martins jüngere Geschwister Adolf, Gretel, Georg, Karl, Hermann und Manfred, geboren. 1937 wird Martin eingeschult und besucht bis zum Schulverbot 1943 die Bessunger Knabenschule in der Ludwigshöhstraße.
Martins Vater Georg ist gelernter Schuhmacher und arbeitet in verschiedenen Darmstädter Firmen, zuletzt in der Holzschuhfabrik Dietrich. Februar 1943 wird er verhaftet und nach Flossenbürg deportiert. Er selbst ist kein Sinto.
Heute erinnern wir an die Deportation der Sinti-Familien aus Darmstadt vor 82 Jahren. Auch Marie Wick und ihre Kinder gehören dazu, auch wenn sie nicht wie die Mehrheit der Darmstädter Sinti-Familien im März, sondern gemeinsam mit Familie Mettbach am 10. Mai deportiert werden. Sie werden in ihrer Wohnung abgeholt, zum Güterbahnhof getrieben und nach Auschwitz deportiert. Dort zwingt man sie in das berüchtigte Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
Martin Wick erinnert sich:
„Wir haben nicht gleich gewusst, was Auschwitz bedeutet, aber wir haben dann nachts das Geschrei gehört, die vergast wurden.
Des nachts durfte ja keiner den Block verlassen. Aber wir waren trotzdem raus, und haben gesehen, dass hinter dem Zaun die Krematorien standen und dort die Menschen ermordet wurden. Das sogenannte „Z.-lager“ war direkt neben der Rampe, neben den Bahngleisen, wo die Menschen ankamen.
Wir haben gesehen, wie die Waggons ankamen, wie die Menschen herausgeschlagen wurden, das haben wir alles gesehen…
Oder wenn jemand in der Baracke gestorben ist, dann bist du morgens in den Waschraum gekommen, das war so ein gekachelter Raum, da lagen die Toten der Nacht, ausgemergelt. Mit Tintenstift war ihnen der Name auf die Brust geschrieben. Mütter, Väter, Kinder, alle lagen da. Später sind sie mit dem Rollwagen geholt worden und in das Krematorium gebracht worden, gerade so als ob Holz geholt worden würde. So ging es auch mit meinen Geschwistern, die wurden krank, bekamen Typhus, kamen in den Krankenbau…
Ich habe sie nie wieder gesehen. Alle meine jüngeren Geschwister, und zwei meiner älteren Geschwister starben dort. Die kleinsten Kinder hatten überhaupt keine Chance, Auschwitz zu überleben. Mein jüngster Bruder, Manfred, war ja erst im Mai 1943 geboren worden, er war gerade zwei Monate alt, als er nach Auschwitz kam. Der andere, Hermann, war noch keine drei Jahre alt, der Karl fünf Jahre, Georg sechs Jahre. Meine Schwester Gretel, keine acht Jahre alt. Die waren alle in Darmstadt geboren worden…“
Martin Wick selbst überlebt den Völkermord und NS-Terror nur dank der der Intervention seiner älteren Schwester Wilhelmine. Obwohl Martin an Typhus erkrankt ist, erhält Wilhelmine die Erlaubnis der SS, ihren Bruder auf den Transport in das KZ Ravensbrück mitzunehmen. Am 3. März 1945 wird Martin mit anderen Häftlingen von Ravensbrück nach Sachsenhausen verschubt. Von dort wird er mit etwa 4000 Gefangenen auf den Todesmarsch geschickt. Er gehört zu den wenigen Überlebenden, die von der Roten Armee am 2. Mai 1945 befreit werden können. Martins Großmutter, die ebenfalls in Ravensbrück inhaftiert ist, wird noch zwei Stunden vor der Befreiung ermordet.
Auf der Flucht vor Einweisung in ein Waisenhaus gelangt Martin im November 1945 nach Hamburg und kommt bis Juli 1946 in einem Erholungsheim für ehemalige KZ-Häftlinge und einer Hamburger Familie unter. Von dort schreibt er an den Bürgermeister von Darmstadt in der Hoffnung, Überlebende seiner Familie zu finden. So gelingt es ihm seinen Vater, der die Konzentrationslager Flossenbürg und Mauthausen überlebt hatte, zu finden. Martin Wick zieht zurück nach Darmstadt.
In Oberfranken findet er dann eine Ausbildungsstelle als Stuckateur. Doch die Firma wird aufgelöst und so begleitet er seinen Vater und seine Stiefmutter auf Reisen im Schaustellergeschäft. Dann arbeitet er als Weißbinder und Stuckateur.
In Darmstadt wohnt die Familie Wick zunächst in der Michaelstraße, wo noch die Baracken russischer Kriegsgefangener stehen. 1954 kündigt die Stadt die Pacht und weist der Familie ein Grundstück im Sensfelder Weg zu. Nachdem auch die Pacht für dieses Grundstück entzogen und das Haus abgerissen wurde, zieht die Familie in die Kirschenallee. Es ist ein notdürftig hergerichtetes, von städtischer Seite vernachlässigtes Wohngebiet.
Martin Wick kümmert sich als Hausmeister um die Wohnungen und das Gemeinschaftszentrum. Am 8. September 2003 stirbt Martin Wick, genannt Scheckel, in Darmstadt. Er wird auf dem Waldfriedhof beigesetzt.
In seinen Erinnerungen schrieb er:
„Von allen Geschwistern sind nur drei wieder aus Auschwitz lebend zurückgekommen. Meine beiden Schwestern, die das Glück hatten, im Küchenbau zu arbeiten, und ich….
Wir haben so viele Dinge gesehen, von denen muss heute jeder sagen,
das ist nicht menschenmöglich, das erträgt kein Mensch“
Lesung 2 Erinnerungen an Anna Lind und ihre Kinder
29.3.1942
Lieber Sohn Karl!
Deinen Brief zu erhalten, hat mich sehr gefreut. Teile dir mit, dass ich gesund bin.
Lieber Sohn, wenn du zum Militär kannst, so hoffe ich, dass du dich gut führst. Sobald du deine Adresse weißt, teile mir dieselbe mit.
Lieber Karl, wenn es dir möglich ist, so mache ein Gesuch für deinen Bruder Friedrich. Richte das Gesuch an Reichsminister Dr. Himmler Berlin.
Deinem Bruder seine Adresse lautet
Friedrich Lind
Dachau
Geb. 17.5. 1922 Gefangenen Nummer 27987 Block 9/3
Warum schreibt mir Frau Reinhardt nicht?
Dass es den Kindern gut geht, freut mich. Grüße sie alle von mir.
Sobald du von Friedrich Antwort hast, teile es mir mit, ich sorge mich um ihn. Wenn ich wieder Zuhause bin, fange ich ein neues Leben an und bin Euch eine gute Mutter.
Lieben Gruß an alle zuhause und Tante Wilhelmine
Deine Mutter
Anna Lind, geborene Reinhardt, die Verfasserin dieser Zeilen, ist eine einfache Frau, ohne schulische Bildung. Seit dem Tod ihres Mannes Heinrich ist sie allein für sieben Kinder verantwortlich. Herbst 1939 wird sie mit Familie Reinhardt, ihren Verwandten, in Lorsch in der Bahnhofsstraße 18 „sesshaft gemacht“. Sie wohnen auf der gleichen Etage des „Gemeindehauses.“ Heute können wir sagen: sie wurde in ein Ghettohaus in Lorsch gezwungen. Zuvor hielt sie sich mit ihren Kindern in und um Darmstadt auf. Den Brief diktiert sie in Haft jemandem, der die Zeilen für sie aufschreibt und über die Gefängnispost verschickt. Zugestellt werden, wird der Brief nicht.
Doch, warum ist Anna Lind überhaupt inhaftiert?
Oktober 1941 wird Anna Lind und ihrem 16jährigen Neffen Zacharias Reinhardt schwerer Diebstahl vorgeworfen. Sie hätten eine Geldkassette mit 10 RM, einem Sparkassenbuch und Papieren entwendet. Und ja, es stimmt. Anna Lind und Zacharias geben zu, die Kassette entwendet und im Wald versteckt zu haben, als Anna Lind sie eigentlich zurücktragen wollte. Sie enthält, als man sie findet, bis auf die 10 RM noch alle Papiere und auch das Sparbuch.
Doch in welcher Situation befinden sich die beiden, als sie sich entscheiden, die Geldkassette zu nehmen, wenn selbst ein NS-Gericht von mildernden Umständen spricht?
Zacharias war bei dem Landwirt, der die Anzeige erstattet, für 1 ½ Jahre angestellt. Dies ist ein für einen so jungen Menschen durchaus langes und damit verlässliches Arbeitsverhältnis. Dann wird er entlassen – besser gesagt: ersetzt durch einen französischen Kriegsgefangenen. Vier Wochen später kommt er gemeinsam mit Anna Lind auf dem Weg vom „Vertrauensarzt“ wieder an seiner alten Arbeitsstelle vorbei und sie entscheiden sich, die Kassette mitzunehmen.
Das Gericht geht in seinem Urteil im Februar 1942 von mildernden Umständen aus: Es sei der Angeklagten zugute zu halten, dass die Sorge um ihre Kinder sie zu der Tat getrieben und sie auch aus ihrer Tat keinen Nutzen gezogen habe. Statt der beantragten Zuchthausstrafe verurteilt das Gericht sie „nur“ zu Gefängnis. Knapp ein Jahr ihrer Strafe verbringt sie im Gefängnis Bensheim und den Haftanstalten Darmstadt und Mainz. In Mainz soll sie bis Mai 1943 bleiben.
November 1942 ordnet der Generalstaatsanwalt zu Darmstadt an, dass Anna Lind wieder nach Darmstadt zu bringen sei. Es ist eine gezielte Haftverlegung. Den Archivalien ist anzusehen, dass jemand mit dem Gerichtsurteil und den mildernden Umständen nicht einverstanden war.
Es sieht danach aus, als habe hier jemand seinen Machtspielraum genutzt und Selbstjustiz angewandt. Denn Anna Lind bleibt nicht in Darmstadt.
Am 25. Januar 1943 beginnt morgens um 6 Uhr 55 ihre Verschleppung vom Darmstädter Gefängnis ins Konzentrationslager Auschwitz. Laut des Reichskriminalamt erfolgte dies auf „Ersuchen der Staatlichen Kriminalpolizei Darmstadt.“ Keine drei Wochen später ist Anna Lind tot. Am 7. Februar 1943 im Konzentrationslager Auschwitz „verstorben“, wird handschriftlich in ihrer Akte in Darmstadt notiert. (am 18. März 1943)
Die Briefe, die Anna Lind während der Haft in Mainz an ihre Kinder schreibt, haben diese nie erreicht und wurden zurückgesandt.
Verschlossen liegen sie in Anna Linds Akte, bis der Archivar die Briefumschläge für uns öffnete. Den Brief an ihren Sohn Karl haben Sie eingangs gehört. Am 19. Juli 1942 schreibt sie ihrer ältesten Tochter Saferia, festgesetzt in der Hügelstraße 30 in Darmstadt.
Liebe Tochter Saferia und lieber Sohn Karl
Eure Karte habe ich erhalten und möge gerne wissen, warum ihr wieder von der Polizei in Haft genommen wurdet. Wenn ihr doch nichts Unrechtes gemacht habt, kommt ihr doch nicht in Haft.
Ich mache mir große Sorgen um Euch. Sobald ihr entlassen werdet, geht ihr wieder nach Lorsch und bleibt auch dort und arbeitet auch da selbst wieder. Wenn du liebe Saferia wieder zuhause bist, schreibst du auch an Friedrich in Dachau, dass ich seine Adresse erfahre, denn ich habe sehr Heimweh nach meinem Sohn Friedrich.
Liebe Saferia, stelle doch nichts mehr an, dass du bei den Kindern blieben kannst, denn ich mache mir große Sorgen um dieselben.
Von Frau Reinhardt habe ich gehört, dass Karl in ein Krankenhaus gekommen sei. Er soll doch auch einmal an mich schreiben.
Ich weiß weiter wenig mehr zu schreiben. Meine paar Monate gehen noch herum, ich fange ein neues Leben an und werde meine Arbeit wieder weiter machen wie vorher. Gebe mir bald Nachricht
Viele herzliche Grüße sendet Eure liebe Mutter
Grüße an Hilde
Anna Lind
Die Zeilen zeigen den Versuch einer Mutter ihre Kinder zu schützen und den NS-Terror zu überleben. Doch die Ursachen ihrer Verfolgung und Deportation liegen außerhalb ihres Verhaltens, rassistisch begründet in der NS-Ideologie. Nur Karl Lind überlebt die NS-Vernichtungspolitik.
1949 stellt er einen Suchantrag, um seine Geschwister zu finden. Seinem Überleben verdanken wir, dass wir heute an Anna Lind und ihre Kinder – an eine von NS-Tätern fast vollständig vernichtete Familie – erinnern können.
Lassen Sie uns gemeinsam denken an:
Anna Lind, geborene Reinhardt am 6. Mai 1899 in Tann.
Anna Lind stirbt am 7. Februar 1943 wahrscheinlich direkt bei ihrer Ankunft in Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Sie wird, noch während sie in juristischer Haft ist, verschubt und ermordet.
Friedrich Lind, geboren am 17. Mai 1922 in Leinstätten Württemberg.
Er wird durch die Kriminalpolizeileitstelle Frankfurt in Vorbeugungshaft genommen und ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Am 24. Oktober 1941 wird er dort registriert. Am 6. Juli 1942 soll er in ein anderes Konzentrationslager deportiert werden. Drei Tage später wird jedoch sein erneuter „Zugang“ im Konzentrationslager Dachau auf der Schreibstubenkarte notiert. Zuletzt lebend wird er vor seiner Deportation in das Konzentrationslager Sachsenhausen am 4. September 1942 gesehen.
Karl Lind, geboren am 14. Juni 1923 Neuenburg.
Karl Lind überlebt als einziger der Familie den Nationalsozialismus. Er wird in Darmstadt von der Gestapo verhaftet und wie seine Mutter Anfang 1943 von Darmstadt nach Auschwitz deportiert. Dort ist er zunächst im Hauptlager, anschließend in Auschwitz-Birkenau inhaftiert. Ende 1943 muss er im Nebenlager Jaschiwowitz in einem Kohlenbergwerk Zwangsarbeit leisten. Von dort aus wurde er Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und weiter in das Konzentrationslager Leitmeritz – dem größten Außenlager des Konzentrationslager Flossenbürgs. Hier muss er im Steinbruch bis Kriegsende Zwangsarbeit leisten.
Nach 1945 lebt er zunächst in Polen, 1948 zieht er nach Reichenbach in den Odenwald. 1949 schließt er sich der Fremdenlegion an. Von 1954 bis 1957 lebt er wieder in Darmstadt-Eberstadt.
Saferia Lind, geboren am 2. Dezember 1924 in Waldmichelbach.
Sie wurde von ihrem Bruder Karl zuletzt in Darmstadt im Jahre 1942 gesehen.
In Darmstadt geboren werden Johnanna Lind und ihre drei jüngeren Geschwister. Sie werden zuletzt in Auschwitz im jahre 1944 gesehen. Wir erinnern an
Johanna Lind, geboren am 7. November 1928 in Darmstadt
Heinrich Lind, geboren am 10. Februar 1930 in Darmstadt. Er wird 14 Jahre.
Matthias Lind, geboren am 2. Juli 1931 in Darmstadt. Auch sein letztes Lebenszeichen ist bezeugt von seinem Bruder Karl Januar 1944 in Auschwitz.
Susanna Lind, geboren am 12. Oktober 1934 in Darmstadt. Die jüngste der sieben Geschwister stirbt wahrscheinlich noch vor ihrem 10. Geburtstag.
Ihre Namen stehen für viele.
Lesung 3: Widerstand und Überleben: Vinzenz und Oskar Rose
Anton und Lisetta Rose sind vor 1933 angesehene Bürgerin und Bürger, haben einen festen Freundeskreis und betreiben im Kreis Darmstadt
ein Wanderkino. Vinzenz Rose erinnert sich: „Wir hatten ein gutes Familienleben, ein gutes Einkommen und alles war gesichert.“
Als das Kino Sommer 1934 geschlossen werden soll, reicht Anton Rose Beschwerde ein. Die Reichsfilmkammer entscheidet wie folgt: „Es ist nichts dafür beigebracht worden, dass [Herr Rose] sein Gewerbe nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Das Einzige, was bisher zu seinem Nachteil vorgetragen worden ist, ist, dass er wie ein [Es folgt das Z-Wort] aussehe. Ein unvorteilhaftes Äußeres eines Volksgenossen kann nicht Veranlassung geben, ihm seinen Broterwerb zu entziehen.“ Doch das Berufsverbot ist damit nur verschoben. 1937, drei Jahre später, müssen sie aufgrund der NS-Diskriminierung und -Verfolgung den Kinobetrieb schließen. Außerdem haben die Nationalsozialisten deutschlandweit Kommunallager für Sinti und Roma errichtet, die zusammen mit den Konzentrationslagern ein System der Verfolgung bilden, dem nur schwer zu entkommen ist.
Nach dem Verlust der Arbeit ziehen Anton und Lisetta Rose mit ihren beiden Söhnen, Oskar und Vinzenz, ins pfälzische Frankenthal, wo die Familie unter verdecktem Namen lebt und versucht, ihr Leben weitestgehend fortzusetzen. Oskar Rose bekommt eine Stelle als Hilfskraft in einer Kanzlei über einen befreundeten Rechtsanwalt. Vinzenz Rose wird in dieser Zeit Vater, seine Tochter Natalie Rose kommt in Frankenthal zur Welt. Wo sich Martha, die Tochter von Lisetta und Anton, aufhielt, ist unklar.
Wie es zur Flucht der Familie durch ganz Deutschland und darüber hinaus kommt, ist in Quellen unterschiedlich dargelegt. In einer heißt es, Informationen aus der Kanzlei, in der Oskar Rose arbeitet, haben die Familie gewarnt, dass ihre Deportation kurz bevorstehe. In einer anderen heißt es, Vinzenz Rose sei auf einer Reise von Ludwigshafen zurück nach Hause festgenommen worden und nur durch gute Kontakte nach fünf Wochen Inhaftierung freigekommen. Einige Tage später habe dann die Gestapo vor der Tür gestanden, um ihn festzunehmen. Diese habe er davon überzeugen können, dass er sich innerhalb der nächsten Stunde beim Revier der Gestapo melden würde. Diese Chance habe die Familie zur Flucht genutzt. Nur die Tochter von Vinzenz Rose, Natalie, bleibt bei einer befreundeten Familie zurück. Man glaubt, es sei so sicherer für das Kleinkind. Doch allen Bemühungen zum Trotz wird auch sie nach Auschwitz deportiert und im Alter von zwei Jahren ermordet.
Die Flucht führt die Familie bis in die Tschechoslowakei, wo sich Oskar und Vinzenz von den restlichen Angehörigen trennen müssen. Lisetta und Anton gelingt es, nach Schwerin zu ziehen. 1942 findet die Familie dort wieder zusammen. Doch ihr Leben ist geprägt von dem stetigen Gefühl der Angst durch das immer härtere Vordringen der Nationalsozialisten.
Frühjahr 1943 wird Vinzenz Rose verhaftet und in das sogenannte „Z.-lager Großstrehlitz“ in Mecklenburg gebracht, von wo aus er am 15. März
nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wird – also an dem Tag, an dem auch die Darmstädter Sinti-Familien deportiert werden. Im Dezember kommt Vinzenz mit einem Häftlingstransport in das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Wie viele andere wird er den Torturen der Fleckfieberexperimente ausgesetzt. Vinzenz Rose überlebt und wird April 1944 ins Außenlager Neckarelz, östlich von Heidelberg überstellt. Dort muss er in einem Stollen Zwangsarbeit leisten.
Derweil versucht Oskar Rose vergeblich, die Katholische Kirche zum Handeln zu bewegen. Im Frühjahr 1943 geht er persönlich zum Erzbischof von München und Freising, Kardinal Faulhaber. Über ihn möchte Oskar Rose den Einsatz der Katholischen Kirche gegen die Deportation von über 14 000 Sinti erwirken. Doch der Kardinal weigert sich, ihn zu empfangen und leugnet nach dem Krieg öffentlich, jemals von dem Besuch gewusst zu haben. Ein Eintrag vom 5. April 1943 in später entdeckten Tagebüchern überführen Faulhaber allerdings der Lüge. Denn er schrieb selbst, dass ein Sinto namens Adler bei ihm gewesen sei, um die Hilfe durch die Kirche zu erwirken. Und kommentiert noch: „Nein, kann keine Hilfe in Aussicht stellen“.
Bis Sommer 1943 werden auch Anton und Lisetta Rose gefasst und nach Auschwitz verschleppt. Wenig später, am 1. September 1943, wird Anton Rose ermordet. Seine Frau wird weiter in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Sie stirbt vermutlich am 23. Mai 1944.
Martha Rose wird im August 1940 verhaftet und nach Ravensbrück verschleppt. 1944 wird sie von dort aus in die Außenkommandos des Konzentrationslagers Buchenwald – Altenburg, Taucha und Schlieben – gebracht. Dort muss sie mit hunderten Sintezze Zwangsarbeit leisten. Den Häftlingsunterlagen ist zu entnehmen, dass sie ab dem 5. März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ist. Dort wird sie kurz vor der Befreiung des Konzentrationslagers ermordet.
Im August 1944 befindet sich Oskar Rose in Heidelberg. Als er von der Inhaftierung seines Bruders im Außenlager Neckarelz hört, organisiert er mit der Unterstützung eines polnischen LKW-Fahrers einen Fluchtplan: Der LKW transportiert Material aus dem Stollen, in welchem Vinzenz Rose Zwangsarbeit leistet. Wenn Vinzenz sich in der Dunkelheit des Stollens unter dem Fahrersitz versteckt, könnte er ungesehen aus dem Stollen und damit dem Konzentrationslager herausgeschmuggelt werden. Der Plan geht auf und Vinzenz ist einer der wenigen KZ-Häftlinge, deren Flucht erfolgreich ist. Bis Ende des Krieges leben die Brüder in Bayern unter falschem Namen, ihre Eltern, ihre Schwester sowie Vinzenz‘ Tochter werden in Lagern ermordet. Insgesamt sterben 13 Mitglieder der Familie Rose durch die Nazis.
Im Nachkriegsdeutschland legen Oskar und Vinzenz Rose den Grundstein für die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma. Im Februar 1982 wird der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet. Dessen Vorsitzender Romani Rose spricht in einem Interview mit dem ZDF vor den Bundestagswahlen mit Sorge über die aktuelle Situation und Entwicklung. Er betont besonders, dass „der überwiegende Teil unserer Minderheit in der Anonymität lebt, aufgrund des Drucks von Stigmatisierung, des Antiziganismus – mit all den Klischees, die damit verbunden sind. Wir werden trotz unserer 600-jährigen Geschichte in Deutschland nicht als Deutsche wahrgenommen. Nationale Identität und kulturelle Identität sind keine Gegensätze. […] Von der Gesellschaft würde ich mir wünschen, dass sie mehr über unsere kulturellen Leistungen erfährt. Es ist ihnen gar nicht bewusst, wie viel Einfluss Sinti und Roma zum Beispiel im Sport haben – oder auf die europäische Klassik hatten. Flamenco-Fans wissen oft nicht, dass diese Musik am meisten von den spanischen Roma, den Gitanos, geprägt wurde.“