13.11.2024 / 18:00 Uhr / Vernissage
Einführung in die Ausstellung: Bernhard Schütz (Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V.) gemeinsam mit Engagierten der BrechtGeschichtswerkstatt
Musikalische Begleitung: Ensemble der Viktoriaschule Darmstadt
Im Anschluss an die Veranstaltung gab es einen regen Austausch zwischen Anwesenden und den beteiligten jugendlichen Projektteilnehmer*innen. Am Tag drauf fand dann die Fortbildung für Lehrkräfte statt, die das Hauptstaatsarchiv gemeinsam mit der Geschichtswerkstatt angeboten hat. Wir haben uns besonders darüber gefreut, acht jugendliche Projektteilnehmende als Co-Referent*innen gewinnen zu können.

Impressionen der Ausstellung im Foyer des Hauptstaatsarchiv am Tag der Ausstellungseröffnung, am 13.11.2024

20.03.2025 / 18:00 Uhr / Finissage
Worte zur Ausstellung: Kirsti Ohr (Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V.)
Darmstadt, den 17. Januar 34
Sehr geehrter Herr Untersuchungsrichter!
[…]Als ich eingeliefert wurde war es so kalt in der Zelle, daß ich mir meine Füße erfroren habe. Ich konnte daher nachts nicht schlafen, vor Schmerzen. Erst nachdem ich von meinen Eltern eine Salbe bekam, ließen die Schmerzen nach. Gelegenheit zum Baden ist keine vorhanden. Auch spazieren gehen im Freien gab es hier nicht, konnte mir also keine Bewegungen machen. Bettüberzüge, Messer, Gabel gab es nicht, war also gezwungen meine Kartoffel mit den Fingernägeln zu schälen. Arbeiten und lesen durfte ich auch nicht. Sie werden daraus sehen, was es für einen Jugendlichen bedeutet 44 Tage in einer kleinen Zelle zu sitzen, ohne irgendetwas zu treiben.
Es grüßt Sie
Hochachtungsvoll
Adam Stroh
Sehr verehrte Anwesende,
Herzlichen Dank, dass Sie uns die Gelegenheit geben, auf der Finissage zu sprechen.
Bei der Ausstellungseröffnung stellte Bernhard Schütz ihnen die drei Ebenen der Ausstellung,
- die biografische Ebene der Handelnden in der Geschichte.
- die Ebene der Widerstandsformen, Handlungsoptionen unter den Bedingungen des NS-Verfolgungs- und Terrorsystems.
- Die Reflexionsebene der Projekt-Teilnehmenden.
Er stellte unseren fachwissenschaftlichen Background sowie unsere konzeptuelle und methodische Arbeit näher vor. Dies möchte ich nicht wiederholen, sondern den Akzent verstärkt auf die Praxis, auf die Begegnung mit den Quellen legen.
Die eben zitierte Quelle, das Gesuch Adam Strohs, ist ein seltenes Zeugnis. Denn es gibt konkreten Einblick in die Schutzhaftbedingungen im Gestapogefängnis in der Riedeleselstraße. Selbst den 17. Geburtstag verbringt Adam Stroh dort in Einzelhaft. Und Adam Stroh übertreibt nicht: dem 19jährigen Robert Petry aus Weiterstadt setzen Verhörmethoden und Terror so zu, dass er einen Selbstmordversuch verübt.
Dort, wo es Verfolgte gibt; dort, wo Opfer sind, da sind auch Täter. Insofern sind Täterhandeln und das System des Terrors in den Projektarbeiten ebenfalls stets präsent. Aber die biografische Erinnerung liegt auf der historischen Person, die sich gegen den NS-Faschismus stellt. Ihnen begegnen Sie auch in unserer aktuellen Ausstellung „Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Biografische Erkundungen 1933-1945“. Nicht den Täter explizit. Ihr Handeln ist inhärent.
Doch zurück zu Adam Stroh und Robert Petri, zu denen die Recherchen und Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind: Sie werden ihnen in der Ausstellung also noch nicht mit einer eigenen Tafel begegnen.
Mit ihren 16 und 19 Jahren leisteten beide, Adam Stroh und Robert Petri, antifaschistischen Widerstand.
Auf die Frage, bei wem er Beitragsgelder für die verbotene KPD-Jugend kassiert habe, erklärt Robert Petry, „dass sein proletarisches Innere nicht zugibt, dass ich die Wahrheit sage. Hiermit möchte ich dokumentieren, dass ich mich an meinen Genossen nicht zum Verräter machen will.“ Heute würde er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Die Konsequenzen in Gestapohaft brauche ich nicht zu nennen. Sie kennen Sie. Adam Stroh bezeugt sie.
Robert Petri leistet damit auch noch im Moment des Verhörs Widerstand. Er riskiert in der Situation viel. Fast jede Tafel der Ausstellung thematisiert Formen antifaschistischen Widerstands im NS-Staat und wendet sich damit gegen die Annexion und Instrumentalisierung des Begriffs, die einem heute im Alltag, auf Demonstrationen oder in social media begegnen. In Artikel 20 Absatz 4 der Verfassung heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Und die Ordnung ist zuvor klar definiert worden: als parlamentarische Demokratie, als sozialer und föderaler Rechtsstaat. Häufig werden im socia media also die Ausübung demokratischer Rechte, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Widerstand etikiert.
Für die Darmstädter Geschichtswerkstatt stehen Menschen, die im Visier der NS-Täter standen, im Zentrum der Recherchen. Sprich: Widerstandleistende, aber auch Personen, deren gesellschaftliches bis menschliches Existenzrecht die Nationalsozialisten nicht anerkannten, negierten und die deshalb verfolgt und ermordet wurden.
„Mit 18 Jahren ging ich in eine Wirtshaft servieren. Da war ich ¾ Jahr. Ich hatte auf einmal keinen Spaß gehabt, da hörte ich auf. Da ging ich 3-4 Wochen nicht arbeiten. Auf einmal hörte ich, dass Schaffnerinnen gesucht wurden für die Verkehrsbetriebe. Ich ging auf das Arbeitsamt und wollte eine weiße Karte haben. Von diesem Tag an wurde ich verpflichtet zu einem Bauern nach Wombach zu gehen. Ich ging zu dem Bauer hin, sagte ihm ganz offen, dass ich an Landarbeit keinen Spaß hätte. Da gab die Bäuerin mir zu Antwort, dann hätte es ja auch keinen Wert, denn man müsste mit Liebe an die Arbeit gehen. Ich fuhr nach Hause und ging auch auf kein Arbeitsamt. Ich wollte doch am liebsten auf die Verkehrsbetriebe. Ich hatte gedacht, wenn ich nicht zu dem Bauer ging, dann würde ich vielleicht doch das Arbeitsamt auf die Verkehrsbetriebe lassen. Da Arbeitsamt hat mir dann 2 Einschreibebriefe geschickt, und ich bin als noch nicht hin gegangen. Eine Woche später wurde ich verhaftet. Aum anderen Tag kam ich vor den Schnellrichter. Ich erhielt eine Strafe von 3 Monaten Gefängnis. Meine Entlassung ist am 17.12.1941. Danach werde ich sofort meiner Arbeit nachgehen.
Waltraut Hock, die Autorin dieser Zeilen, wird nicht entlassen. Die Mutter wartet am 17.12.1941 vergeblich auf sie. Sie wird erst auf Nachfrage über die Deportation ihrer Tochter in das Konzentrationslager Ravensbrück informiert. Waltraut Hock, unehelich geboren am 8. Oktober 1922 in Biebrich am Rhein, wird in Auschwitz ermordet. Ihr leiblicher Vater ist farbig. Waltraut Hock wurde rassisch verfolgt.
Die Egodokumente von Waltraut Hock und Adam Stroh zeigen außer den Verfolgungen noch etwas anders: Waltraut Hock wünscht sich Schaffnerin zu werden – scheint ein kommunikativer Mensch zu sein. Ihre Ausbildung als Verkäuferin muss sie wegen Hochzeit und Schwangerschaft mit nur 17 Jahren abbrechen. Darauf arbeitet wie oben zitiert als Serviererin. Etwas scheint vorgefallen zu sein, da sie abrupt nicht mehr hingeht. Doch als sie sich um die Ausbildung zur Schaffnerin bewirbt, zwingt man sie zum Arbeitsdienst in der Landwirtschaft. Die niedrigsten Tätigkeiten müsse sie kennenlernen, heißt es in den Gefängnisunterlagen später. Was wollte Waltraut Hock? Ihren Beruf frei wählen. Diese Berufswahlfreiheit wurde ihr aus rassischen und ideologischen Gründen verwehrt.
Adam Stroh wendet sich in einem zweiten Brief an den Oberstaatsanwalt, betont diesmal, dass die Isolation und die Verletzungen alles Schmerzen seien, die er überwinden könne, nicht aber den Abbruch seiner Berufsausbildung. Die Vorstellung „ohne Gesellenprüfung ins Leben zu gehen“ ist seine Hauptbelastung. Wie Waltraut Hock werden auch ihm alle beruflichen Perspektiven genommen. Er weiß genau, wie seine Zukunft im NS-Regime ohne Abschluss aussehen wird.
Wiederholt sich Geschichte? Können wir aus Geschichte lernen?
Gängige Fragen, die uns immer wieder begegnen: und nein, natürlich wiederholt sich Geschichte nicht einfach, aber es gibt Strukturen und Muster in einer Gesellschaft, die immer neu in Bezug zueinander gesetzt werden können. Und damit ist auch die zweite Frage beantwortet. In der Auseinandersetzung mit Biografien wie der von Waltraut Hock oder Adam Stroh werden wir uns der Rechte und damit Privilegien bewusst, die in einer Demokratie, sprich: in unserer Lebenswelt als selbstverständlich erscheinen. Ja, wir können aus Geschichte lernen, wenn wird dem Ansatz von Volkhard Knigge und Wilhelm Heitmeyer „Geschichte als Verunsicherung“ ernst nehmen. Wenn wir Geschichte nicht als feststehendes Narrativ, sondern prozessorientiert als gegenseitige Begegnung begreifen und als Anregung zur bewussten Selbstreflexion nutzen. Wenn wir nicht in etablierten Narrativen und Erinnerungsformen verharren, sondern aktiv Erinnerungsarbeit leisten. Wenn das Begreifen historischer Zusammenhänge und Strukturen auch zu einer Wahrnehmung und einem Verständnis der Gegenwart führt.
Für die Menschen im NS-Staat erforderte es Mut, für sich einzustehen – wie Waltraut Hock es mit ihrem Berufswunsch tat. Es erforderte Mut, Handlungsoptionen auszuloten und wahrzunehmen, um sich dem NS-Faschismus entgegenzustellen – wissend dass dies die Gefährdung der eigenen Freiheit, der eigenen Lebens, aber auch die von Familie und Freundeskreis bedeutete. Immer wieder stoßen wir auf Personen, die vor der Verfolgung ins Exil flüchteten, um dann dort gegen Faschismus und Nationalsozialismus zu kämpfen. Sie gaben die Zuversicht nicht auf, antifaschistisch wirken zu können und politische und gesellschaftliche Räume mitgestalten zu können.
„Grabe, wo du stehst“ – das war und ist das Motto der Geschichtswerkstätten, die sich Anfang der 80er Jahre in Deutschland – so auch in Darmstadt gründeten. Indem wir den Blick auf das Geschehen vor Ort und auf jeden einzelnen lenken; lenken wir den Blick auch auf die Gesellschaft im Gesamten. Wir alle wissen, wie stark der Umgang mit Geschichte eine Gesellschaft spiegelt.
Um sich in einer Gesellschaft wohlzufühlen, um sich zugehörig zu fühlen, gehört auch wahrgenommen zu werden und partizipieren zu können. Aus dem Grund ist uns die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein besonderes Anliegen und unsere Bitte an Sie – wenn Sie gleich durch die Ausstellung gehen – hören Sie genau hin, wie die jugendlichen Projektteilnehmer*innen in den Video-Interviews, die sie mit Rainer Lind geführt haben, ihre Erfahrungen erinnern, ihre Begegnungen mit der jeweiligen historischen Person, den Quellen und Tatorten reflektieren. Denn es sind ihre Antworten, auf die Fragen, die unsere Erinnerungsarbeit immer wieder begleiten und einfach gesagt lauten: Wen oder was können wir erinnern? Wie wollen wir erinnern? Die Projektarbeit ermöglicht den Jugendlichen eine Autorenschaft, Erinnerungsarbeit und damit auch die Gesellschaft, in der wir leben, aktiv mitzugestalten. Durch den Blick auf historische Ereignisse entsteht – wie Sie gemerkt haben – gleichzeitig auf vielen verschiedenen Ebenen ein Bewusstsein für Demokratie.
Ich danke Ihnen.


