Ausstellungsort 2: Haus der Geschichte – Darmstadt

Die Darmstädter Geschichtswerkstatt zeigt ihre Ausstellung „Zwischen Nonkonformität und Widerstand“
vom 18. April bis 31. Mai 2024 an Wochentagen von 9:00 bis 17:30 Uhr
im Haus der Geschichte in Darmstadt

Wer waren die Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise nicht in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ einfügten? Welche Konsequenzen hatte dies für die Betroffenen? Diesen Fragen widmeten sich Schüler*innen der Bertolt-Brecht-Schule gemeinsam mit Bernhard Schütz und Kirsti Ohr von der Geschichtswerkstatt. Die Ergebnisse ihres Rechercheprojekts: Biografien von in der NS-Zeit Verfolgten aus Darmstadt und Umgebung, die nach 1945 oftmals jahrelang um ihren Anspruch auf Entschädigung kämpften. Nun sind sie in Darmstadt ausgestellt. Die professionelle Gestaltung und Installation im Foyer des Haus der Geschichte verdankt die Geschichtsarbeit dem Künstler Rainer Lind, mit dem eine jahrelange Zusammenarbeit besteht. Einmalig und nur in Darmstadt zu sehen, sind die in den Vitrinen ausgelegten Originale aus dem Staatsarchiv Darmstadt.

Die Vitrine zum Ausstellungsbeitrag zur Erinnerung an Otto Sturmfels – SPD-Landtagsabgeordneter von 1921-1931.
Im NS verfolgt und aufgrund der Aktion G(ew)itter 1944 in KZ Dachau verschleppt und ermordet.

Am Abend der Vernissage konfrontierte das sechsköpfige Ensemble der Viktoriaschule Darmstadt mit dem thematisch passenden Auftakt „Mein Vater wird gesucht“ von Hans Drach die Anwesenden im Eckhardt-G.-Franz-Saal mit der kindlichen Perspektive auf das Wissen um Verfolgung und Ermordung von Widerständlern im NS-Staat. Danach konnten sich die Projektteilnehmenden über wertschätzende Worte von Dr. Rouven Pons, Leiter des Staatsarchivs, und Oberbürgermeister Hanno Benz freuen, die u.a. die Notwendigkeit eines solchen Engagement für die Gesellschaft ansprachen.
Bevor Rainer Lind das Konzept der Ausstellung den Anwesenden vorstellte und besonders auf die Videoinstallationen hinwies, die durch das parallele Bild von Aufnahmen der KZ-Gedenkstätte Dachau, Täterdokumenten und Interviews, die individuelle Begegnung mit einem ehemaligen Tatort, dem Verfolgungs- und Dokumentationswahn des NS-Regime und den Biografien zeigen, sprach seitens der Geschichtswerkstatt Kirsti Ohr.


„Erlauben Sie mir, Sie mit einem Zitat und kurzem Exkurs auf den Weg in die Ausstellung zu nehmen: „Grabe, wo du stehst“ – das war und ist das Motto der Geschichtswerkstätten, die sich Anfang der 80er Jahre in Deutschland – so auch in Darmstadt gründeten. Es lenkt den Blick auf das Geschehen vor Ort und auf jeden einzelnen; macht doch das Handeln eines / einer Jeden die Gesellschaft im Gesamten aus.
Für die Darmstädter Geschichtswerkstatt stehen Menschen, die im Visier der NS-Täter standen, im Zentrum der Recherchen. Sprich: Widerstandleistende, aber auch Personen, deren gesellschaftliches bis menschliches Existenzrecht die Nationalsozialisten nicht anerkannten, negierten und die deshalb verfolgt und ermordet wurden. Dort, wo es Verfolgte gibt; dort, wo Opfer sind, da sind auch Täter. Insofern sind Täterhandeln und das System des Terrors in unseren Projektarbeiten ebenfalls stets präsent. Aber die biografische Erinnerung liegt eben auf der historischen Person, die sich gegen den NS-Faschismus stellt. Ihnen begegnen Sie auch in unserer aktuellen Ausstellung „Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Biografische Erkundungen 1933-1945“.
Die Ausstellung bewegt sich auf drei Ebenen. Zwei habe ich bereits angesprochen: die Ebene der historischen Person und die der thematischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Widerstand. Letzteres ist nicht zuletzt deshalb hochaktuell, denkt man an dessen Annexion und Instrumentalisierung, die einem im Alltag, auf Demonstrationen oder in social media immer wieder begegnen.
Die dritte Ebene widmet sich den Recherchierenden. Ihren Begegnungen mit der jeweiligen historischen Person, den Quellen und Tatorten, ihren Reflexionen. Deshalb möchte ich Sie besonders einladen, zuzuhören, wie die jugendlichen Projektteilnehmer*innen ihre Erfahrungen erinnern. Wer was wahrnahm und daraufhin wie reflektiert. Damit näheren wir uns auch schon den Fragen, die unsere Erinnerungsarbeit immer wieder begleiten und einfach gesagt lauten: Wen oder was können wir erinnern? Wie wollen wir erinnern?
Hinter den Fragen steht das, worauf unsere Projektarbeit konzeptionell und methodisch basiert und die ich hier nur schlagwortartig nennen möchte. Zum einen ist es der Gedanke der Subjektorientierung, der gegenseitigen dreifachen Annäherung seitens der Subjekte historische Person, Recherchierende*r und der „Geschichtswerkstatt“, deren Motto „Grabe, wo du stehst“, stets präsent ist. Zum anderen orientieren wir uns an dem Gedanken der „Analytischen Empathie“. Heißt: Emotionen werden nicht negiert, sondern ihnen wird Raum gegeben, sie werden bewusst wahrgenommen, um als Türöffner für die Begegnung mit den Quellen von Nutzen zu sein. So bleibt es nicht beim Verharren in einer Überwältigung – sei es des Ortes oder der Dokumente – sondern ermöglicht die biografische Erkundungen. Mit dem Entschlüsseln von Dokumenten kann Individuelles rekonstruiert und erinnert werden. Dies wirkt der Systematik der Entindivudialisierung des NS-Terrors entgegen. Gleichzeitig wahrt es die Differenz zwischen den Recherchierenden und dem historischen Subjekt. 
Dass das Rechercheprojekt ergebnisoffen ist, ergibt sich von selbst. Schließlich arbeiten wir an – ob Original oder Digitalisiat – unedierten Quellen. Die jungen Erwachsenen recherchieren vor Ort in den Archiven Darmstadt und Wiesbaden, nutzen das Online Archive der Arolsen Archives und besuchen Gedenkstätten. Bernhard Schütz besuchte zusätzlich Archive in Berlin und Stockholm und mit mir gemeinsam mehrfach auch das Landesarchiv in Speyer.
Werfen wir noch einen Blick auf das Material, mit dem wir arbeiten. Leider begegnen einem in den Archiven sehr selten Egodokumente. Umso wertvoller sind Briefe oder Notizen, die die Familie oder das persönliche Umfeld ansprechen, die eine politische Einstellung oder auch Emotionen bzw. Reflexionen der eigenen Situation aussprechen. Täterdokumente dagegen spiegeln den Prozess der Entindividualisierung. Ihnen inhärent ist die Syntax und Semantik der NS-Verfolgungsbehörden. Sie müssen entschlüsselt und im Kontext der Systematisierung und Institutionalisierung des Terrors ausgewertet werden. Diese Auswertung findet im Dialog statt. Seitens der Geschichtswerkstatt ermöglichen wir so die Autorenschaft der Jugendlichen und bitten Sie: Hören Sie den Jugendlichen zu, hören Sie hin, was sie zu sagen haben und nehmen Sie die Ausstellungsbeiträge als das wahr, was sie sind: als aktuelle politische, die Gesellschaft gestaltende Arbeiten. Denn Gesellschaft definiert sich auch darüber, wie sie mit Geschichte umgeht, welche Verantwortung sie übernimmt, sprich: wie und was sie erinnert. Und damit sind wir – sie erinnern sich – wieder bei den die Projektarbeit begleitende Kernfragen.
Gleich werden Sie die Antworten auf die Fragen in den Ergebnisse sehen. Doch bevor ich Sie herzlich zum Gespräch mit den jugendlichen Autor*innen einlade, hören wir nochmal das Ensemble der Viktoriaschule. Unter der Leitung von Christina
Tröger haben sie musikalisch zu dem Thema gearbeitet und für den heutigen Abend hervorragende Stücke ausgewählt. Hervorragend deshalb, weil sie den Gedanken der Subjektorientierung widerspiegeln, den Fokus auf die Freunde und Angehörigen der Verfolgten – also in die Gesellschaft hinein – einweitern und deren persönliche Wertschätzung, aber auch Ängste zeigen und damit den Verlust, der hinter jeder in der Ausstellung gezeigten Biografie steht, unterstreichen. DANKE“

Zum Abschluss kam noch einmal das Ensemble auf die Bühne. Sie spielten Swing und damit die Musik, die mindestens für eine der Personen, an die in der Ausstellung erinnert wird, eine besondere Rolle in ihrem Leben spielte und ihr Lebensmut gab. Den Abschluss fand die Vernissage darin, dass die Projektteilnehmer*innen die Besucher*innen zum Dialog über ihre biografischen Erkundungen einluden.

Veranstalter: Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V. | Staatsarchiv Darmstadt
Ort: Haus der Geschichte | Eckhart G. Franz-Saal und Foyer

Pressestimmen zu Ausstellung und Projektarbeit

Impressionen aus dem Foyer des Staatsarchivs Darmstadt, Haus der Geschichte

Rückblick und Ausblick:
Im Februar / März 2024 wurde die Ausstellung im Max-Mannheimer-Studienzentrum in Dachau gezeigt.
Zum Nachlesen: >>>>BrechtGeschichtswerkstatt

Weitere Stationen nach den Sommerferien 2024 sind die KZ-Gedenkstätte Osthofen und das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.



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