Geradezu antiquiert wirkt es im Zeitalter der Digitalisierung am Abend des 2. März 2023 in Darmstadt. Ein Kassettenrekorder aus den 80ern, ein Handmikrophon zur Weitergabe, immerhin schon schnurrlos, aber eben doch kein persönliches Headset und – nicht zu vergessen – die Bestuhlung des „Eckhart-G.-Franz-Saals“. Der Vortragssaal im „Haus der Geschichte“ ist beinah übervoll, einzelne Stühle werden noch dazugestellt. Auch auf die Treppen setzen sich Interessierte; interessiert am Vortrag von Dr. Heinrich Pingel, der Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre die Darmstädter Stadtgeschichte untersuchte und den Blick auf die Prozesse des Machtzuwachses und -ausbaus der Nationalsozialisten lenkte. Interessiert an der anschließenden Podiumsdiskussion.
Der Kassettenrekorder – (k)ein Bühnenrequisit
ein noch leeres Rednerpult, Podium…
Dr. Pingels Forschungsarbeit “ Das Jahr 1933. NS-Machtergreifung in Darmstadt und im Volksstaat Hessen“ hat die Erinnerungsarbeit in Darmstadt nachhaltig geprägt und ist heute noch der aktuelle Forschungstand. Mehr noch: Seine Zeitzeugeninterviews sind ein wertvoller Schatz Darmstädter Geschichte. Doch die Zuschauer:inner bemerken an dem Abend dessen Fragilität. Denn der mitgebrachte O-Ton aus den 70ern fällt hörbar selbst bald der Geschichte anheim. Es bedarf einer dringenden Digitalisierung, bevor Stimmen von Darmstädter:innen, die während des Nationalsozialismus Widerstand leisteten oder verfolgt waren und mit denen Dr. Pingel Interviews führte, verblassen und nur die kurzen Zitate in seinen Publikationen und Vorträgen erhalten bleiben. Anstelle hier Dr. Pingel zu referieren, empfiehlt die GW die Lektüre seiner Veröffentlichungen.
- Pingel-Rollmann, H. (1985): Widerstand und Verfolgung in Darmstadt und in der Provinz Starkenburg 1933-1945.
- Pingel, H. (1978): Das Jahr 1933. NSDAP-Machtergreifung in Darmstadt und im Volksstaat Hessen
- Pingel, H. (1977): 100 Jahre TH Darmstadt. Wissenschaft und Technik für wen?
Geschichte trifft Gegenwart
Im Anschluss an den Vortrag tauschen Bernhard Schütz, Klaus Müller (GVFD) und Dr. Heinrich Pingel gemeinsam mit jungen Erwachsenen Überlegungen zu Demokratiegefährdungen 2023 aus. Dr. Peter Engels vom Stadtarchiv Darmstadt moderiert das Gespräch. Diskutiert und reflektiert werden Gedanken wie von Geschichte lernen, Einfluss von Sprache auf Gesellschaft und das gesellschaftliche Demokratiebewusstsein. Besonders kontrovers diskutiert wird auf dem Podium und mit dem Publikum die Frage, ob Geschichte sich wiederhole bzw. sich überhaupt wiederholen könne. Bernhard Schütz vertritt die Meinung der GW, als er darlegt, inwieweit diese Aussage historische Prozesse und Strukturen unberücksichtigt läßt und situatives Problembewusstsein verkürzt.
Kurz: Am Abend des 2. März fand im Haus der Geschichte ein überaus spannender Austausch mit reger Publikumsbeteilung zum Veranstaltungstag zu „90 Jahre Machtergreifung“ in Darmstadt statt. Dr. Heinrich Pingel wurde von der GW, Gegen Vergessen Für Demokratie Südhessen e.V. (GVFD) und dem Stadt- und Staatsarchiv Darmstadt als Referent eingeladen.
Fotos (c) Dr. Ulrike Landzettel